Vorwort

E. Hellen und M. Hillenbrand

Unserem Musikführer Zazzerino, ein Produkt der weltweit vielgenutzen Klassika-Seiten und seit 2006 auf dem Markt, ist sein Bett zu klein geworden. Nachdem er im Jahre 2007 um die Ballettmusik erleichtert wurde, die im Schwanensee ihren Platz gefunden hat, soll das Volumen nun auch um den Bereich Oratorium reduziert werden. Ein weiteres Kind ist also unterwegs und sucht ein neues Zuhause.

Foto: Carolina K. Smith, M.D. - Fotolia.com

Wir fanden, dass die Welt der Kantaten, dem Oratorium wesensverwandt, es verdient, rehabilitiert zu werden. Im Format etwas kleiner, meidet die Kantate den weitgesteckten Rahmen und befasst sich hauptsächlich mit dem Schicksal der Einzelwesen, welches sich fast immer fatal ausnimmt. Da ist der Prinz, der die Fee Alyssa aufgibt, weil er in den Krieg ziehen muss. Amarus, das traurige Mönchlein vergisst, Öl in die Altarlampe nachzugießen und provoziert damit infolge Andeutung eines Engels auf diese Weise seinen Suizid. Ahab muss sich mit dem weißen Wal herumärgern und Cleopatra setzt sich eine Schlange an den wohlgeformten Busen, weil sie mit Oktavian nicht klarkommt. In allen Kantaten, in denen die Phrase mit „La Mort“ beginnt, wird auf unliebsame und originelle Weise gestorben, das ist bei Dido nicht anders als bei Sardanapal. Belsazar muss aus Übermut sein Leben lassen und Herkules hat sich ahnungslos und unbedacht eine giftdurchtränkte Tunika übergestreift. Liebessehnen findet fast nie seine Erfüllung. Herminie bekommt ihren Rinaldo nicht, Alcyone erscheint der ertrunkene Gatte noch einmal als Geist. Die Liebschaften der Teolinde sind maßlos übertrieben, der Geliebte würdigt sie seines Anblicks nicht. Vom unterwürfigen Fischer hört man, „dat syne Fru die Ilsebill“ nicht so will, als er wohl will. Alexander Newski gewinnt zwar die Schlacht, aber die kleine Russin irrt in Sehnsucht nach einem mutigen Falken verzweifelt über den zugefrorenen Peipusee. Die Leiden des Erlösers werden ebenso ausgiebig besungen wie seine von Engeln verkündete Geburt. Gibt es nirgendwo einen Lichtblick? Wozu? Der Konzertbesucher möchte sich gleichermaßen an Lust und Leid ergötzen, und die Gewissheit haben, dass die ewige Gerechtigkeit waltet. Es gibt allerdings auch einen Fall, bei dem das Individuum ungeschoren davon kommt. Es ist die Kaffee-Kantate von Johann Sebastian Bach.

Das Oratorium wurde aus der Not geboren. Die geistlichen Herren der Barockzeit untersagten, während der Fastenzeit Opern aufzuführen. Diese stellten eine Lustbarkeit dar, die dem liturgischen Kirchenjahr nicht angemessen war. Auf Musikdramen wollte die Bevölkerung aber nicht verzichten und somit schuf man etwas zur Erbauung. Was erbaut mehr als die Religion? So griffen die Librettisten zum Alten Testament, zum Neuen Testament und zur christlichen Mystik. Dramatische Begebenheiten der Bibel wurden nach ihren Vorstellungen ausgeweitet, umgestaltet und ausgeschmückt, damit die mehr oder weniger verehrten Komponisten etwas hatten, auf das sie sich stürzen konnten, ohne den Missmut des Klerus zu befürchten. Die Aufführungen fanden auch nicht im Opernhaus statt, sondern in einem Gebetshaus. Es entspricht dem lateinischen Wort Oratorium und schwappte als Gattungsname auf das Werk über. Als erste Komposition dieser Gattung nennt die Musikgeschichte das Oratorium „Representazione di anima e di corpi“ (Darstellung der Seele und des Körpers) des Komponisten Emilio de Cavalieri, welches im Jahre 1600 entstand.

In einem Oratorium verhält es sich in den meisten Fällen so, dass die handelnden Personen nicht selbst auftreten, sondern die Geschichte von einem oder mehreren Erzählern gesanglich vorgetragen wird - eine Aufgabe, die sie sich zuweilen mit dem Madrigalchor teilen müssen. Gleich dem antiken Drama hat der Chor die Aufgabe, das Geschehen zu kommentieren. Manchmal sind Begebenheiten auch ungeeignet, vorgeführt zu werden. Hiobs Plagen zum Beispiel machen eine szenische Darstellung unerquicklich oder überflüssig, so dass die musikalische Form des Oratoriums sich als hilfreich erweist. Bei religiösen und sakralen Themen ist es nicht geblieben. Die Moderne hat sich nachdrücklich zu Wort gemeldet und sich die Kunstgattung des Oratoriums für ein völlig anderes Formenverständnis zurechtgebogen. Es ist ein holpriger Weg von der tiefempfundenen Frömmigkeit Kaiser Leopolds I. bis hin zu Carl Orffs ketzerischem Weltuntergangsdrama.

Alexanderfest haben wir die neuen Webseiten genannt, weil die Redaktion sich wünscht, dass es für den Leser ein Fest werden soll, in unserem Oratorien- und Kantatenführer die Seiten abzurufen. Georg Friedrich Händel halten viele für den bedeutendsten Komponisten in dieser Werkgruppe und der mazedonische wie der russische Held Alexander stehen für den Sieg. Das sind die Argumente für einen zutreffenden Suchbegriff und wir hoffen, dass der Leser ihn annimmt und zum Alexanderfest kommt. Vollständig ist der Führer noch nicht, die Redaktion arbeitet ständig an der Erweiterung.

Foto: Stein aus Persepolis, Dareios (Th. Reheis)