Maurice Ravel (1875-1937):

Alyssa

Allgemeine Angaben zur Kantate

Anlass: Beitrag für den Rompreis 1903
Entstehungszeit: 1903
Besetzung: 3 Soli (STB) und Orchester
Verlag: Paris: Salabert, 1990

Zur Kantate

Art: Kantate in drei Szenen nach „Eine Irische Legende“
Text: Marguerite Coiffier
Sprache: französisch
Ort: Irland
Zeit: in mythischer Zeit

Personen der Handlung

Alyssa: eine Fee
Braïzyl: der Kronprinz
Le Barde: Sprecher des Königs

Handlung

Erste Szene

Elfenhafte Kreaturen und umherziehende Geister lenken seines Fußes Lauf. In der Dunkelheit der Nacht weisen sie dem mutigen Prinzen den Weg durch den Wald. Die Schatten der Düsternis soll er hinter sich lassen und nach dem Licht Ausschau halten. Er findet es in den offenen Zwischenräumen des Gehölzes. Auf geheimnisvolle Weise macht Braïzyl die Bekanntschaft einer Fee. Die Sichel des silbernen Mondes geleitete sie gleich einer Barke auf einem stillen See nach unten. Der himmlische Gesang eines unbekannten Landes berührte sein Ohr. Lieblicher als eine Lilie dünkte sie ihm in ihrem hauchdünnen Schleier. Schlafend im Mantel der Abenddämmerung liegt der See. Vorbeiziehende Wolken suchen den Perlenmond zu maskieren. Die Ruhe der Nacht wickelt den Wald ein.

Wird er Alyssa ein zweites Mal sehen? Die engelgleiche Fee, Vision eines Traumes, in der weißen Pracht der Nacht soll sie sein Auge entzücken. Noch einmal muss er sie erblicken, ihrem äolischen Gesang lauschen und das seraphische Parfum der süßen Lilie einatmen. Sehen muss er sie, um sich Gewissheit zu verschaffen, dass es kein Traum, keine wilde Illusion war, als er ihr das erste Mal begegnete. Ihren langen Haaren wird er schmeicheln und trinken möchte er von den Lippen der Wunder.

Welch berauschendes Parfum erfüllt plötzlich die Luft. Die Harmonien weit entfernter Stimmen scheint er zu hören. Die Luft ist in goldenem Licht gebadet. Ein Mondstrahl glitzert durch die Nacht und berührt den See. Er transformiert die Wellen in einen Spiegel aus Silber, der sein Auge verblüfft. Alyssa erscheint. Ihre Gabe, einen halbwegs vernünftigen Dialog zu eröffnen, steht ihrer wundersamen Erscheinung weit nach. „Là-bas, tout là-bas chantent les fleurs d'or !“ Da unten, ganz da unten singen Blumen aus Gold. Unter dem Gewicht des dunkelblauen Wassers kann er Rosen wahrnehmen und große Lilien mit Flügeln werden dort geboren. Er möge doch bitte in die Richtung schauen, wo der Mondstrahl hinzeigt. Braïzyl zeigt wenig Interesse für abstruse Botanik in feuchten Tümpeln, hört ihr kaum zu und hat nur Blick für ihre erotische Ausstrahlung. Alle Lebewesen seien Seelen, kündet Alyssa. Der Prinz teilt ihre Ansicht.

Zweite Szene

Seine Schönheit, sein Licht, endlich sieht er Alyssa wieder. Drei Tage war er weg vom Palast des Vaters und verrückt von Wünschen, die nur sie erfüllen kann. Offenbar haben sich die beiden in der Zwischenzeit regelmäßig getroffen. Doch diesen Abend wird er sie das letzte Mal sehen. Mahnend hebt die Betörende den Finger und betont, dass sie leider eine Fee sei. Was immer sie damit auch ausdrücken möchte, sie ist sein Leben und in seinen Armen soll sie für immer verweilen. Nein, sie kann nicht! Ein ranghöherer Geist namens Angus erlaubt ihr nicht, die Dauergeliebte eines Sterblichen zu werden. Nun, welche Konditionen muss er erfüllen, damit er weiterhin in den Genuss ihrer Liebe kommt? Es erfordert, den Globus zu verlassen, um ihr zu folgen. Braïzyl ist bereit, die Erde gegen den Himmel einzutauschen, damit er weiterhin an den gewohnten Freuden partizipieren kann. Sie soll ihn erheben! Als Gegenleistung verspricht er ewige Treue, denn er kann sich nichts Schöneres vorstellen, als immer an ihrer Seite zu leben.

Nun ist es an der Zeit, das Liebesduett anzustimmen: Die Blumen des lichterfüllten Tages soll der Tod von ihrem Glück nicht abtrennen. Er möchte mit ihr an den Ort gehen, an dem die Seelen jubilieren können und scheuernde Zweifel und bittere Eifersucht keinen Zutritt haben. Niemals wird Finsternis die Fronten verdunkeln und die liebe Freundin wird sich über süße Harmonie ständig beugen. Mit den Schwingen eines gemeinsamen Traumes gleiten sie an diesen stillen Aufenthalt, an dem die Seelen unendliche Freude und grenzenlose Liebe trinken werden. Den fernen Lärm der Schlachten werden sie dort nicht hören, bestenfalls das Flüstern der Winde in den Zweigen.

Ganz so hold wird ihnen die Zukunft nicht sein, denn er löst plötzlich seine Umarmung. Das Schlagen von Schwertern will er gehört haben, doch sie ist der Meinung, dass es das Gegeneinanderschlagen des zerbrechlichen Schilfrohrs gewesen sein muss. Sie spricht wahr, bestimmt hat die Luft den Wind irritiert und im Vorbeiwehen die Äste verdreht. Trotzdem hat Braïzyl das Gefühl, dass Wolken von Traurigkeit den Himmel verdunkeln. Sie setzt dagegen, dass das Violett des Amethysts und das Blau des Saphirs, über die ein goldener Strahl huscht, einen unendlichen April schaffen werden. Là-bas, tout là-bas schwebt der Geist der stillen Nacht. Die Seele kommt sich vor wie parfümiert. Sind nicht alle Lebewesen beseelt? Nun gut, die Erde, welche ihn festhält, wird er verachten, den trübsinnigen Platz gegen einen Ort eintauschen, an dem Freiheit und Pracht, Idealismus und Klarheit herrschen. Wichtig ist, dass das Glück niemals endet. Dem Zuhörer reichen die Ergüsse und er freut sich nun auf die nächste Szene.

Dritte Szene

Die Stunde des Volkes ist gekommen, in der die Krieger von furiosem Elan gepackt den Feind aus der Stadt schleudern wollen. Jedoch Braïzyl, ihr Führer, versucht zu flüchten. Dreißigtausend Angreifer sind in die Mauern eingedrungen und haben die Steine von Loda zum Erzittern gebracht. Das Volk schreit um Hilfe. In Alyssas Gegenwart macht der Herold des Königs dem Kronprinzen heftige Vorwürfe. Die Fee mischt sich wortgewandt in den Dialog ein. Was hat der Königssohn mit dieser Sache zu tun, mit dem Krieg und seiner Schrecken, der Welt und ihrer Schlechtigkeit? Mangel an Glorie erweckt häufig den Drang nach Blutvergießen, eine Reaktion, die sie verabscheut. Der Königssohn wendet ein, dass er sein Volk zu verteidigen hat. Zum Volk will er gehen, aber Alyssa liebt er! Sein Land wird er in jedem Fall beschützen. Soll das etwa heißen, dass er sie für immer verlassen will? Verständnislos steht der Barde des Königs der Situation gegenüber. Was lässt den Prinzen zögern? Hat er nicht verstanden? In der Schlacht hat er zu kämpfen! Der Unschlüssige soll ihm genau zuhören. Infolge seines hohen Alters ist sein Vater schwer erkrankt. Er wird die Königswürde erben. Die Vollmacht des Vaters erlaube ihm, das königliche Schwert zu überreichen, damit er dem Ansturm der Eindringliche Einhalt gebiete. Er möge sich bitte beeilen. Der Vater sei am Ende seiner Kräfte.

Alyssa verteidigt ihre Liebe. Braïzyl soll ihm nicht zuhören. Was vernimmt sein sterbliches Ohr lieber, das Gurren einer Taube oder das Kreischen eines Geiers? Den Pfad von Hass und Tränen soll er nicht wählen, sondern bei ihr bleiben, denn sie ist das Lächeln der Liebe. Die Zuversichtliche stößt auf die heftige Opposition des Hofsängers, der sie keines Wortes würdigt, sondern sich ausschließlich an den Prinzen wendet. Der magischen Kraft, die ihn bindet, soll er widerstehen, damit er nicht seine Selbstachtung verliere und in Scham versinke. Die Stimme der Ehre soll seine Zweifel beenden und seine Augen der Realität des Tages öffnen. So einfach ist die Sache nicht! Selbst, wenn er dem Eiferer recht gibt, muss er der sensiblen Macht lauschen, die ihn entzückt. Vergebens sucht er ihren Ketten zu entfliehen, weil sein Herz dann entzwei bricht. Für den Rest seiner Tage möchte er aber auch nicht unter dem Gewicht seiner Scham versinken. Welchen Entschluss soll er fassen?

Was soll der Barde dem Volk erzählen? Wie wird sein Vater und König einen abschlägigen Bescheid aufnehmen, wenn seine Bitte vergebens ist. Die Soldaten werden fechten und sterben müssen ohne das Lebewohl ihres rechtmäßigen Führers. Wenn die Gesichter der Schatten in der Unterwelt ihn nach Ablauf seines Lebens wiedererkennen, wie wird seine Entschuldigung lauten? Er hat es ihm noch nicht gesagt. Der Vater ist tot, in der Schlacht unterlag er trotz seiner Tapferkeit. Himmelwärts ist er aufgestiegen und mit düsterer Miene wird er ihn vor dem Totengericht anklagen. Braïzyl fasst einen plötzlichen Entschluss. Seine Waffen soll man ihm geben, ein feiger Sklave wird er nicht sein. Er war so klar, der Traum von den goldenen Blumen und den schönen Lilien. „Vater, frohlocke, neu erstehst du in deinem Sohn!“


Letzte Änderung am 3.1.2008
Beitrag von Engelbert Hellen