Maurice Ravel (1875-1937):

Alcyone

Allgemeine Angaben zur Kantate

Anlass: Beitrag zum Rompreis
Entstehungszeit: 1902
Besetzung: 3 Soli und Orchester
Erstdruck: Paris: Salabert, 1997
Bemerkung: Als eine ewige Verlockung galt jungen französischen Komponisten des 19. Jahrhunderts der Rompreis, der mit dem Privileg eines Studienaufenthaltes in der Ewigen Stadt verbunden war. Wie der Kelch des Heiligen Grals schwebte die begehrte Auszeichnung vor ihrem geistigen Auge. Viele Komponisten, die später zu höchstem Ruhm aufstiegen, bemühten sich umsonst, den ersehnten Preis zu erhalten. Die Eingabe seiner Dramatischen Szene Alcyone gereichte Maurice Ravel auch diesmal nicht zur Ehre. Der Pechvogel versuchte es nacheinander fünfmal. Die vorgeschriebene Altersgrenze setzte seinen vergeblichen Bemühungen ein Ende.

Zur Kantate

Art: Kantate in fünf Szenen
Text: Eugène und Edouard Adenis nach Ovids Metamorphosen (Buch 9)
Ort: Thessalien
Zeit: zu mythischer Zeit

Personen der Handlung

Alcyone: Königin von Thrakien
Sophrona: Alcyones Amme
Geist des Ceyx: König von Thrakien und Alcyones Gatte

Handlung

ERSTE SZENE

Die weißen Segel sind am Horizont verschwunden. Das Schiff ist im Begriff, auf das offene Meer zu entfliehen. Keine schützende Küste begrenzt die unendliche Weite des Horizonts. Die ersten Sterne funkeln am nächtlichen Himmel. Das Schiff trägt Ceyx, den Gatten, der Alcyone unendlich teuer ist. Ihre unerklärliche Besorgnis überträgt sich unbewusst auf die Amme. Die Meeresstürme lauern den Fluten unaufhörlich auf. Alcyone soll hinsehen, wie der Himmel aufleuchten, ähnlich der Blitze in ihrem Herzen, welches dunkle Wolken stapelt. Sie liebt die mächtigen Wolken, aber weshalb hat sie Angst? Abgereist ist der Gemahl, den sie über alles liebt. Tausend Gefahren können auf ihn zulaufen und sie kann nicht in der Nähe sein, um sie abzuwenden. Es brüllt der Sturm, noch ist es nicht Winter. Man befindet sich in der Jahreszeit der Lilien. Sophrona tröstet die Verlassene. König ist der Gemahl und Sohn eines Gottes. Die Götter werden sich um sein Wohlbefinden kümmern. Zurück wird er sein, wenn drei Tage vorbei sind! Alcyone schlägt vor, in Anblick des Abendsternes der himmlischen Astarte ein Gebet zu schicken. Die Göttin des Mondes soll das Schiff, welches den Gatten trägt, sicher an die gewünschte Küste geleiten und ihren schützenden silbernen Schleier ausbreiten. Sophrona rät ihrem Schützling, sich zur Ruhe zu begeben und süß einzuschlafen, so wie sie als Kind einschlief – mit friedvollem Herzen. Wie kann Alcyone friedlich schlafen, während der Gatte den Gefahren der stürmischen See ausgesetzt ist? Will sie etwa, dass der Gemahl nach seiner Rückkehr ihre Stirn blass und die Lippen weniger rot findet? Der Schlaf ist der Frieden der Seele, Alcyone hatte es vergessen!

ZWEITE SZENE

Im Halbschlaf sieht Alcyone das Schiff, welches Ceyx an die Gestade der Insel Claros tragen soll. Allmählich beginnt der Sturm sich zum Orkan zu entfalten. Der Wind heult fürchterlich und die See schäumt im Zorn. Plötzlich kippt der Mast, die Segel reißen und das Steuerruder ist zerbrochen. Das Schiff birst auseinander und beginnt zu sinken. Aus Wind und Wellen vernimmt sie des Ceyx hohl klingende Stimme: “Alcyone! Alcyone! Alcyone, Geliebte, einzig Geliebte, lebe wohl!“

DRITTE SZENE

Alcyone reflektiert: Allmächtige Götter, es war ein Traum, ein furchtbarer Traum! Ohne Zweifel hat ihn ein eifersüchtiger Gott gesandt, um ihren friedlichen Schlaf zu stören. Gut, dass es wirklich nur ein Traum ist. Durch die verhängnisvolle Finsternis zuckte ein Blitz. Wie furchtbar, wenn ihr Traum kein Traum gewesen wäre! „Diana, Astarte, beschützt meinen Mann, der mir liebt ist.“ Doch die Göttinnen halten ihr Antlitz bedeckt. Alcyone versucht erneut einzuschlafen.

VIERTE SZENE

Es gibt Grenzwissenschaften, die sich mit dem Phänomen der außerordentlichen Wahrnehmung beschäftigen. Geschehnisse, die an anderen Orten ablaufen, gleichgültig ob sie in der Vergangenheit passierten oder in der Zukunft stattfinden werden, verdichten sich und täuschen Materie vor, die für den Sterblichen wahrnehmbar ist, wenn heftige Gemütsbewegungen den Umstand begünstigen. Alcyone erfüllt offenbar die erforderlichen Voraussetzungen. „Mein Teurer, mein einzig Geliebter! Bist du es, der in meine Arme kommt? Du fliehst vor meiner Umarmung? O verlasse mich nicht!“ Sie nimmt die Ankunft des Gatten tatsächlich wahr, hält seine Gegenwart allerdings für einen Traum. Die Stunde ist süß, wenn sie erwacht. Der Klang seiner Stimme, die sie geweckt hat, klingt fast so lieb wie sie immer war. „Geliebte Alcyone!“ Aber sie möchte kein Traumbild umarmen und auch keines küssen. Nun, es ist kein Traum. Der Geist des Ceyx steht vor ihr. Sie phantasiert nicht! Seine Augen sind dem Licht für immer verschlossen. Das Schiff ward zerbrochen durch den Sturm. In den stürmischen Fluten fand er seine letzte Stunde. In diesem fatalen Moment, dreimal geliebtes Weib, sank er in die Tiefe. Seine letzten Gedanken galten ihr. Was muss sie hören? Dieser traurige Abschied. Ceyx betont die traurige Wahrheit. Sie will es nicht glauben und denkt, Phobetor, der Gott über die Träume, spiele ihr einen Streich. Ihr Mann segele nach Claros, der strahlend schönen Insel und wird bald gesund zurück sein. Er komme ihr vor wie ein Phantom. Nimmer wird sein Auge die geschätzten Ufer erblicken. Sein lebloser Körper treibt in der bewegten See. Die Wogen werden ihn in der Morgenfrühe ans Ufer fegen. Ein Grab unter Palmen soll sie ihm bereiten und ein Gebet murmeln. Seine Augen sind geschlossen für das Licht. Seine lieben Augen sollen geschlossen sein für immer? Nein, nein, sie will es nicht, es kann nicht sein! Sie ruft nach Sophrona.

FÜNFTE SZENE

Teilnahmsvoll fragt die Ziehmutter, was sie schmerzt. Was veranlasst ihr Kind, laut zu rufen, und weshalb glänzen ihre Augen? Er ist nicht mehr, er ist nicht mehr! Weit weg von den Tiefen, in denen er umkam, trauert nun Alcyone. Macht sie sich Sorgen? Für Sophrona nicht sichtbar, steht Ceyx neben seiner Gattin. Die Ungläubige soll doch schauen! Ihre Arme umklammern nicht den Lebenden. Ihre hungrigen Lippen zucken in Qual unter den verlorenen Küssen. Er spricht mit ihr. Die Liebste soll kommen, zu den Wohlgerüchen des Elysiums aufsteigen und die Erde hinter sich lassen! Um mitzukommen benötige sie die schwerelosen Schwingen des Halcyon-Vogels, mit ihnen kann sie zu anderen Ufern fliegen, erläutert die Zweifelnde. Sie soll ihn begleiten, gemeinsam werden sie ihren Traum leben. Flutende Seufzer der Hoffnung schütteln ihren Körper. Sophrona bemerkt, dass das Delirium die Ärmste fortreißt. Beide singen im Duett, von dem die Amme aber nur die Hälfte versteht, da sie Ceyx nicht zur Kenntnis nehmen kann. Lethes süßer Frühling wird in die Blütenpracht eines unendlichen Sommers überwechseln.

Der Morgen bricht an. Das Liebesduett muss abgebrochen werden, denn Geisterspuk meidet Tageslicht grundsätzlich. Fischer treten ein und bringen die angeschwemmten Überreste des toten Ceyx. Die unglückliche Königin realisiert die Wahrheit und folgt ihrem Gatten in den Tod.


Letzte Änderung am 2.1.2008
Beitrag von Engelbert Hellen