Ottorino Respighi (1879-1936):

Maria Egiziaca

deutsch Die ägyptische Maria / englisch Mary of Egypt / französisch Marie l'égyptienne

Allgemeine Angaben zum Oratorium

Entstehungszeit: 1929-31
Uraufführung: 16. März 1932 in New York (Carnegie Hall, konzertant)
10. August 1932 in Venedig (Teatro la Venice, szenisch)
Besetzung: Soli, Chor und Orchester
Bemerkung: Der Librettist sah in diesem Werk die Möglichkeit einer Wiederbelebung der „Sacra Rappresentazione” - das Werk wird aber oft auch als Oper einsortiert.
Opus: P 170

Zum Oratorium

Art: Mysterium in drei Episoden
Libretto: Claudio Guastalla nach der Prosa „Vite die Santi Padri“ (Das Leben der heiligen Väter) von Domenico Cavalca
Ort: Alexandria und das Heilige Land
Zeit: in frühchristlicher Zeit

Personen der Handlung

Maria von Alexandria: eine Hafendirne, später heilig gesprochen
ein Matrose
ein Pilger
Zosimo: ein Eremit
ein Leprakranker
ein Bettler
eine blinde Frau

Handlung

1. Teil:

Traurigkeit ist eine Gemütsstimmung, in der man auch dann schwelgen kann, wenn kein konkreter Anlass vorliegt. Der junge Matrose singt davon, dass er nicht bereit sei, sich an etwas zu erfreuen und darüber auch kein Bedauern empfindet. Das kleine Schiff liegt im Hafen von Alexandria und ist im Begriff den Kai zu verlassen. Die meisten Passanten zieht es in eine Region außerhalb der Landesgrenzen. Er selbst hat kein Ziel. Was soll er tun? Zu viele Seufzer entspringen einer inneren Unruhe und er scheint weder im Himmel noch auf der Erde heimisch zu sein. Nun wird er sich bequemen, seine Existenz in ein anderes Land zu verlagern.

Eine junge Frau hat ihm zugehört und versteht seine Seufzer nicht. Jung und schön ist er, er soll doch einen Spiegel nehmen und sein liebes Gesicht anschauen. Der Seemann entgegnet, dass keine Frau auf ihn warte und ihn Hoffnung auf Änderung dieser Situation auch nicht bedränge. Er singt einfach nur, um zu singen. Er erinnert sich, dass es einst Sirenen gab, die wunderschöne Lieder hatten. Diese Geschöpfe müssen tot sein, denn noch nie hat er eines von ihnen auf See zu Gesicht bekommen.

Wohin segelt er jetzt, will Maria wissen. Wer weiß? Der höchste Stern am Himmel zeigt ihm bei Nacht den Kurs seiner Navigation. Blau sind alle Wege der tückischen See. „O junger Mann, bitte nimm mich mit dir!“ Marias Gemüt wird urplötzlich von einer bizarren Sehnsucht aufgeweckt. Sie möchte weit weggehen, um Ausschau nach einer neuen Freude zu halten. Den rötlichen Laternen und den dunklen Tavernen kann sie nichts mehr abgewinnen. Tausend Jahre hat sie sich gesehnt, in dunkler Nacht auf das Glitzern der See zu starren, wenn am nachtblauen Firmament die Sterne funkeln. Nochmals bittet sie ihn sehr, sie mitzunehmen. Kommandos vom Deck sagen ihr, dass das Schiff im Begriff ist abzulegen.

Im letzten Moment kommt noch ein Pilger, der mitfahren möchte. Maria macht sich an ihn heran. Warum geht er so nachdenklich und krumm? An welches Ufer, an welchen Hafen ist seine Reise gebunden? Christus hat ihn bewogen, auf heiligen Wegen zu wandeln. Über dem Land Syrien scheint sein Stern. Wie denkt er über ihr Anliegen? Liebend gern möchte sie sich anschließen, aber würden die Matrosen sie mitnehmen? Wenn sie genügend Geld hat, um die Kosten für Fahrt und Verpflegung zu bezahlen, steht ihrer Reise nichts entgegen. Maria lacht aufreizend und unverschämt. Sie sei ein Vagabund und bezahlt mit sich selbst. Wenn sie erst einmal auf dem Wasser sind, wird man sie auch an die Tafel lassen. Maria weiß genau, auf was Männer aus sind. Ihr Körper wird ihnen gehören.

Nun macht die Ratsuchende die Erfahrung, dass sie sich an die falsche Adresse gewandt hat. Ihren Worten zu lauschen ist Sünde für ihn. Mit diesen Silben beendet der fromme Pilger den Dialog und beeilt sich, unter Deck zu verschwinden. So schnell lässt Maria sich aber nicht abfertigen und ruft ihm nach, ob er vielleicht einer von den Säulenheiligen sei, die auf dem hohen Podest eines Pfeilers ausharren, sich von Raupen und sonstigem Gewürm ernähren, um dafür einen Preis im Himmel zu bekommen. Ist das die Ursache, weshalb er so barsch ist?

Die Matrosen spielen Karten. Geduldig wartet Maria bis sie das Spiel abbrechen. Nun bittet Maria den Piloten, sie mit an Bord zu nehmen. Sie verlangt nichts anderes zu essen als hin und wieder einen Keks. Mit den Absichten der Matrosen wird sie einverstanden sein und keine Unsicherheit zeigen. Sie verleugnet sich nicht. Der Pilger erscheint unerwartet an Deck und erhebt Einspruch. Doch die Matrosen bescheiden ihn und erklären, dass sie es sind, welche das Ruder bewegen und für die weißen Laken an den Masten Sorge tragen. Maria empört sich, was hat der Wanderprediger zu bellen? Nun, das Schaf bringt den Schorf. Die Matrosen sollen dem Teufel nicht zuhören. Unter der Last ihrer Sünden wird das Schiff sinken, falls Gott es nicht beschützt. Für die Auseinandersetzung habe der Lärmende weder stichhaltige Argumente noch genieße er die Sympathie der Seeleute. Sie sei schön und werde ihre verlockenden Mittel einsetzen. Dem Jüngsten unter den Matrosen gibt sie einen Kuss. Er soll seine Augen weit öffnen und sie verschlingen. Die Passage aller werde durch ihre Künste freudvoll gestaltet. O, sie ist jung „e bella molto e amoroso”. Gesang und Lachen wird die Reise verschönern. Sie wird alle erfreuen, so wie sie es lieben. Der Pilot folgt dem Ersuchen der Männer und fordert Maria auf, an Bord zu kommen. Die Begeisterung der Mannschaft hat ihn mitgerissen. Lasst uns von ihrem Feuer nehmen, ihr lustvolles Spiel soll leuchten zu solch einem Wind! Schnell rennt Maria an Bord, bevor der Pilot es sich anders überlegt. In der Tat, sie hat das Gesicht einer Sirene. O schönes Schiff, es soll sich beeilen und auf den offenen Mund der See zuhalten. Die Matrosen agieren mit den Ruderstangen und spannen die Segel.

2. Teil:

In zerschlissenem Gewand, ohne Kopfbedeckung und mit einem Schleier vor dem Mund sitzt ein Leprakranker auf den Stufen des Tempels und wartet. Von der anderen Seite des Platzes kommt ein Bettler. Er sieht die Tür des Tempels geschlossen und erkundigt sich, ob es nicht Zeit wäre, sie zu öffnen. Der andere hat dazu keine Meinung. Aber er hält doch Wache hier! Es kommt eine theologische Antwort: Niemand weiß die Zeit! Gesegnet sei ein jeder, den der Meister wachsam findet, mein lieber Bruder. Um der Ansteckungsgefahr auszuweichen, soll der Fragende Abstand nehmen, er sieht, dass er barhäuptig ist und seine Lippen verstecken muss. Der arme Wicht! Er hat einen tiefen Glauben! Seine heilige Hand streckt Christus auch zu den Leprakranken aus. Wenn er sagt „sei geheilt“, wird es auch so sein! Groß ist seine Armut, überlegt der Bettler, doch der andere hat mehr gelitten als er. Lasst uns an die Tür klopfen. Das Portal öffnet sich dem Druck. Aus dem Tempel erklingt Chorgesang in lateinischer Sprache.

Eine blinde Frau wird von Maria an der Hand geführt. Ist es hier, Fremde, wo der Herr das Brot bricht? Ihrem Hunger wird er Nahrung geben, ungesäuertes Brot wird es sein, welches an der himmlischen Tafel auch verabreicht wird. Es wird aber nur denen gegeben, die Gott klar erkennen können. Die Bettlerin bedankt sich für Marias Geleit. Möge Gott den Teufel von ihr fern halten! Die Blinde tastet sich mit dem Stock die Stufen empor und geht dem Gesang nach, der aus dem Inneren des Gotteshauses ertönt. Maria bleibt unsicher stehen und denkt nach, welche Hoffnung sie mit dem Schritt über diese unbekannte Schwelle verbindet. Ein Schleier bedeckt teilweise ihr Gesicht, doch ihr unwillkommener Reisegefährte vom Vortage hat sie entdeckt und versucht, ihr den Eintritt ins Heiligtum zu verwehren. Wohin will sie gehen? Das Leid soll sie verfolgen! Der Herr habe ihm gesagt, dass sie sein Haus nicht betreten darf. Niemals wird der listige Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, Erfolg haben, dem scharfen Auge des Adlers zu entfliehen. Der Herr verbiete ihr, den Gestank der Sünde mit dem duftenden Weihrauch zu vermischen. In die Berghöhlen soll sie gehen und ihr ausgedörrtes Fleisch mit Sand abreiben. Der Fluss ihrer Tränen soll ihr dreckiges Gesicht klären. Vorher wird die verkommene Frau dieses geweihte Haus nicht betreten.

Den Schaum, der aus seinem verwelkten Maul quillt, hat sie sehr wohl bemerkt. Über seine Mysterien würde sie von kompetenter Seite gern mehr erfahren, denn sein Eifer wird dem Klosterbruder mit dem sonnenverbrannten Gesicht nichts nützen. Auch wenn er Maria täglich auf seine Spur schubsen würde, ließe sie sich nicht bekehren. Hier öffnet Gott jedem, der sein Begehren äußert, die Tür, wenn er stärker ist als Leben und Tod. Den Pfaden des Herrn würde Maria mit Freuden folgen. Was fehlt ist eine fundamentale Unterweisung. Macht der Herr sich durch Zeichen verständlich? Was soll sie tun mit ihrer Seele? Sturm hält sie in ihrer Macht, werden die Naturgewalten sie zu unbekannten Schrecken tragen und sie mit Furcht erfüllen? Ihr Herz lässt sich nicht beruhigen und doch fühlt sie sich unendlich frei.

Eine prächtige Tür öffnet sich und aus dem rückwärtigen Teil des Tempels erscheint ein Engel. Maria ist vor Schreck auf ihr Gesicht gefallen und bebt am ganzen Körper. Als sie den Blick hebt ist der Himmelsbote verschwunden. Offenbar trug die Erscheinung keine Textilien, sondern nur Federn, denn Marias Gebet wirkt auf das Publikum ein bisschen sonderbar. Sie spricht davon, dass der weiße Habicht mit seinem harten Schnabel in ihr Herz gestochen hat (“O bianco astore, angelo del Signore, che sì mi mordi il cuore col duro rostro, ...”) Bescheiden will sie vor ihm knien, denn in dem Abgesandten sieht sie ein heiliges Zeichen vom hohen Königreich. Die ganze Wahrheit wurde ihr zuteil. Ärger und Verachtung soll der stolze Vogel wegstecken. Sein konstruktives Verhalten wird ihre Schmerzen lindern, und zum Dank wird sie die Stufen des Tempels küssen. Hochzuschauen wagt sie nicht, aber er soll sich zu ihr herablassen und ihr seine keuschen Augen zudrehen, um die verlorene Sünderin zu fixieren. Maria ruft sich ihre Missetaten ins Gedächtnis zurück und beschreibt sie dem heiligen Habicht in allen Einzelheiten. Der Vogel hat sich als kunstvolle Reliefarbeit an der Spitze des Bogens über dem Portal festgesetzt. Nun sieht sie plötzlich das wahre Licht, und Maria ist bereit Buße für vergangene Sünden zu tun. Harte und glühend heiße Torturen, die besonders lange dauern, soll der hehre Vogel ihr auferlegen, wenn es die Beurteilung ihrer Person günstig stimmen kann, denn den ewigen Tod möchte sie in jedem Fall vermeiden. Seine Flügel soll er öffnen und ihr den holprigen Weg der Rettung zeigen!

Die Stimme des unsichtbaren Engel ertönt aus der Tiefe des Tempels. Bei dem heiligen Fluss, möglicherweise ist der Jordan gemeint, wird der himmlische Wäscher das schmutzige Erbe abschrubben, damit es auf dem erleuchteten Weg in die Zukunft sich nicht als Hindernis zeigt. Beglückt stößt Maria einen Freudenschrei aus und eilt in den Tempel. „O crux ave spes unica...” Die beiden Tempelpforten schließen sich langsam.

3. Teil:

Tiere auf der Bühne wirken immer belustigend. In vorliegendem Fall benötigt der Requisiteur eine Großkatze, welche die Befähigung hat, eine Grube auszuscharren. Der Anachoret Zosimo hatte sich in seinen Gebeten geäußert, der Herr möge einen Löwen schicken. Das Tier soll vor seiner Höhle mit den Tatzen ein Grab schaufeln, weil er selbst schon zu alt sei, um einen Spaten in die Hand zu nehmen. Der Zuhörer möge jetzt bitte nicht den Schluss ziehen, dass die Einsiedler, von denen es in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten eine Menge gab – fast jede Höhle in den Geröllwüsten des Heiligen Landes war mit einem Eremiten belegt, es herrschte eine wahre Höhlennot – Löwen zum Schaufeln von Gräbern abrichteten. Es handelt sich um einen Einzelfall, durch den später Maria von Alexandria als große Büßerin bekannt und von den kirchlichen Gruppierungen in die Liga der Heiligen aufgenommen wurde.

Seinen gebeugten Körper schleppt der fast Erblindete aus seiner Höhle und entdeckt das Grab. Es ist das Zeichen, das Gott ihm kundtut, dass es mit ihm zu Ende gehen wird. „Ich bin fertig“ lautet seine lapidare Antwort. Seine Augen richtet er zum Himmel und betont, dass er alle Sehnsucht auf den Herrn gerichtet habe. Plötzlich sieht er einen Schatten aus der Wüste auf sich zukommen. Die Gestalt hat lange weiße Haare. Ist das etwa ein überwundener Cherubin? Zosimo, der es gewohnt ist, ausschließlich in theologischen Kategorien zu denken, kommt der Sturz der aufsässigen Engel in den Sinn. Es stellt sich heraus, dass es sich lediglich um Maria handelt. Sie stellt auch sogleich richtig, dass sie weder bösartig noch ein Geist sei und entschuldigt sich ob des unangemeldeten Eindringens in seinen Steingarten. Leider kann sie sich ihm nicht frontal zudrehen, weil sie eine Frau sei und dazu noch nackt. Er möge ihr doch bitte ein Laken zuwerfen, damit sie sich bedecken kann. Der Anlass ihres Besuches sei es, seinen Segen zu erflehen. Abt Zosimo tituliert sie ihn. Woher weiß die Frau seinen Namen? Die Weisheit Gottes hat sich erneut gezeigt und zu seinem Trost ihr Kommen arrangiert. Nachdem Maria sich den Mantel übergeworfen hat, ist dem sittlichen Anstand Genüge getan und Zosimo zeigt ihr das Grab, welches der brave Löwe in der Nacht für ihn geschaufelt hat.

Schon gibt es Streit! Nicht für den heiligen Mönch wurde das Grab geschaufelt, sondern für die Sünderin, die einen langen Weg der Buße hinter sich gebracht hat. Ihre müden Schritte hat sie zu seiner Eremitage gelenkt, damit er sie zuvor von ihren Sünden freispreche. Er ist der Meilenstein an ihrem Weg in ein ewiges Leben und er möge sie bitte passieren lassen. Zosimo bittet, dass die Mutter ihn segnen möge. Was sagt er da? Sie sei nicht würdig, die Riemen von seinen Sandalen zu lösen, wendet Maria den ihr geläufigen Bibelvers praktisch an. Sünden gibt es viele. Als Maria von Alexandria war sie einst eine stadtbekannte Prostituierte. Erinnert er sich nicht mehr? Zosimo muss zu seiner Schande gestehen, dass er noch nie in Alexandria war. Woher sollte er Kenntnis haben? Das macht aber nichts, der Herr hat in seiner unendlichen Güte ihre geweinten Tränen gezählt und ihre Reue wohlwollend zur Kenntnis genommen. Das göttliche Licht, welches vom Himmel sprüht, ist in Gnade eingewickelt. Die nackte Seele zittert und die Heilige Jungfrau, ihre Namenspatronin, möge ihr süßen Trost spenden. Vor dem letzten furchtbaren Gerichtsverfahren muss die Bebende keine Angst haben, denn die ewige Verdammnis ist nur für die Unbelehrbaren gedacht. In der Tat, sie ist erlöst, denn das Paradies spiegelt sich in ihrem Gesicht und in ihren Augen brenne ein geheimnisvolles Feuer. Für den Asketen sei das Leuchten eine himmlische Botschaft. Der theologische Disput dreht sich weiterhin um das Thema der ewigen Verdammnis, die für beide nicht in Betracht kommt, weil die unendliche Gnade Gottes sie davor bewahrt. Man hofft, sich nach einer langen Reise im Kreise der Engel wiederzufinden.

Maria kniet neben dem Grab, der Eremit ihr zur Seite. Beide halten sie die Arme in mystischer Verzückung zum Himmel ausgestreckt. Zwei Cherubim erscheinen - einer kommt von rechts, der andere von links – und nehmen die Verzückten in ihre Mitte. Gemeinsam produzieren sie ein Standbild, welches minutenlang anhält und den Betrachter anregen soll, über seine eigenen Sünden nachzudenken. Der Theaterbesucher urteilt, dass die Cherubim wohl zu entscheiden haben, wer das Einzelgrab belegen darf. Eine Gemeinschaftsgruft kann unmöglich in Betracht kommen, da man stapeln müsste und Archäologen späterer Zeiten zu falschen Schlüssen verleitet sein würden. Der fallende Vorhang schließt weitere Betrachtungen aus und lässt das Resultat offen, denn der tosende Beifall lässt jegliche Todessehnsucht vergessen und lockt Maria mit ihrem Anachoreten vor das begeisterte Publikum.


Letzte Änderung am 25.10.2008
Beitrag von Engelbert Hellen